Restaurierung eines Protokollbuchs der jüdischen Gemeinde für das Stadtarchiv
übergeben am 26. November 2016

von | Projekte 2016

Restaurierung einer Dinslakener Hauptquelle zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Dinslaken:

„Israelitisches Schulvorstands- und Gemeindeprotokollbuch 1879-1930“

Mit großer Freude konnte der Freundeskreis Stadtbibliothek und Stadtarchiv Dinslaken dem Stadtarchiv Dinslaken eine hervorragend restaurierte Archivalie übergeben. Die Kosten betrugen 451,00 €, getragen von zwei Spendern, nämlich Frau Renate Seidel und Dr. Wulfhart Ziegler. Beide sind auch Mitglieder des Freundeskreises.

Die folgenden Textinformationen sollen die Bedeutung des Protokollbuchs für die Dinslakener Geschichte mit ehemals einer der größten jüdischen Gemeinden am Niederrhein erläutern. Sie basieren in erster Linie auf Transkriptionen und Informationen von Jürgen Grafen.

Das Protokollbuch als historische Quelle

Das vorliegende Protokollbuch ist nicht die einzige wichtige Quelle zur Geschichte der jüdischen „Kultusgemeinde“ in Dinslaken, aber die einzige Quelle, die überraschender Weise in der Stadt geblieben ist und für Forschungen schon in der Vergangenheit zur Verfügung stand. (Dr. Tohermes – Grafen: Leben und Untergang der Synagogengemeinde Dinslaken – Doktorarbeit.)

Andere Quellen in Gestalt eines Bestandes an Gemeindeakten wurden im Jahr 1938 von Dr. Rothschild, dem damaligen Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, gleichzeitig Waisenhausdirektor und Lehrer am Dinslakener Gymnasium, an das Gesamtarchiv der Deutschen Juden in Berlin ausgehändigt.

Der Umfang dieses Bestandes ist heute nicht klar. Mutmaßlich ist die Sorge über die politische und gesellschaftliche Entwicklung unter der Nazi-Herrschaft das entscheidende Motiv gewesen.

Projekte 2016 - Übergabe des restaurierten 138 Jahre alten Protokollbuches an das Stadtarchiv am 26 November 2016 - Bild 1 von 3

Übergabe des restaurierten Protokollbuches – Bild 1 von 3

Diese Gemeindeakten überlebten den Krieg und gerieten in die staatliche Obhut der DDR. Ein Teil dieser Gemeindeakten verblieb im Archiv der Stiftung Neue Synagoge Berlin, Centrum Judaicums, Oranienburg. Der andere Teil wurde wohl auf Anforderung nach Jerusalem zum „The Central Archives for the History of the Jewesh People“ ausgehändigt.

Jürgen Grafen, der seit 38 Jahren die Geschichte der jüdischen Mitbürger in Dinslaken erforscht, fand die Spur nach Oranienburg und gelangte in mehrtägiger Archivarbeit an Kopien der Dinslakener Akten. Auch fand er den Hinweis auf das Jerusalemer Archiv. Von dort konnte die Stadtarchivarin Gisela Marzin Kopien der lagernden Dinslakener Akten bekommen.

Als Ergebnis finden wir nun im Stadtarchiv sowohl im Original wie auch in Kopien alle relevanten Quellen über die israelitische Kultusgemeinde in Dinslaken, soweit sie den Krieg und die Zeiten überlebt haben. Sie harren dort der nächsten Doktorarbeit.

Unklar ist lediglich, wie in der Zeit von 1930 bis zur endgültigen Zerstörung der jüdischen Gemeinde in der „Reichsprogromnacht“ Protokolle über das Gemeindeleben und die entsprechenden Verpflichtungen geführt wurden.

Einige Inhalte des Protokollbuchs

Eine eigenständige Jüdische Gemeinde Dinslaken gab es erst ab 1879. Vorher gehörte die Jüdische Gemeinde Dinslaken zum Synagogen-Verband Duisburg, Ruhrort, Holten und Dinslaken. Simon Jacobs ist als Vertreter der Dinslakener Gemeinde in diesem Synagogen-Verband bekannt.

Die Protokolltexte sind vorwiegend in Sütterlinschrift verfasst und darum nicht ganz einfach zu lesen. Eine Gesamtübertragung in aktuelles Deutsch liegt nicht vor, sondern nur textliche Fragmente und Auszüge, die von Jürgen Grafen verfasst wurden.

Projekte 2016 - Übergabe des restaurierten 138 Jahre alten Protokollbuches an das Stadtarchiv am 26 November 2016 - Bild 2 von 3

Übergabe des restaurierten Protokollbuches – Bild 2 von 3

Trotz der nur fragmentarischen Übertragung gibt uns das Protokollbuch tiefe Einblicke in das tägliche Leben der jüdischen Gemeinde Dinslaken über einen Zeitraum von 42 Jahren.

Die Gemeinde musste mehrere eigene Institutionen betreuen: Synagoge, jüdische Schule, Waisenhaus, Friedhof und auch die Mikwe, das rituelle Bad der Gemeinde. Aber auch um die Armenkasse und Arbeiterfürsorge kümmerte sich die Gemeinde.

Die Gemeinde eigenen Institutionen mussten immer wieder renoviert, erweitert und auch modernisiert werden. So findet sich im Protokoll vom 19. 2. 1893 ein Kostenvoranschlag für die Renovierung der Synagoge über 12.500 Mark. Verfügbar für die Gemeinde waren 3000 Mark. 9000 Mark wurden mit einem Kredit von 4,5% Zinsen und 1% Amortisation finanziert.

 

Für alle Institutionen mussten Amts- und Funktionsträger sowie Hausmeister oder auch Gärtner, Lehrer und Pädagogen bestellt und bezahlt werden. Im Juli 1893 wurde z.B. in der Zeitschrift „Israelit“ die Stelle eines Kantors ausgeschrieben mit einem Gehalt von 700 Mark plus weiteren 300 Mark für die „Schechita“. Der Kantor war auch als „Schochet“ für das rituelle, koschere Schlachten verantwortlich. Einen Rabbiner gab es in der Gemeinde nicht. Diese Position wurde erst im „Bezirk“ besetzt.

Die Dinslakener Gemeinde zählte sich zu der konservativen Auslegung der jüdischen Glaubenslehren. Ihr Waisenhaus wird darum auch von Kindern außerhalb der Gemeinde in Anspruch genommen. Doch die Gemeinde war auch für die jüdische Schule verantwortlich. Für den 4. Dezember 1894 finden wir eine Notiz, dass im Gemeindevorstand beschlossen wird, die Entlassung (Removierung) des Lehrers Stern zu betreiben. An seinem Verhalten wurde Kritik geübt. Genaueres ist nicht überliefert.

Im Protokoll spiegeln sich aber auch die über den Gemeindehorizont hinaus gehenden Katastrophen der deutschen Geschichte wieder. So auch die Hyperflation der Jahre 1923/24. Da erhält der Kantor Skapowker per Beschluss vom 25. Februar 1923 ein Gehalt von 25.000 Mark. Bis zum 25. November 1923 aber steigt das Gehalt auf 12 Billionen Mark pro Monat! Das klingt nur heute lustig.

Und bereits im Juli 1924 taucht die hässliche Fratze der Nazis auf: Es wird von einem Briefwechsel zwischen dem Vorsitzenden der Gemeinde und der Stadtverwaltung wegen der Anbringung von Hakenkreuzen vor Häusern der Juden in der Weselerstraße berichtet.

In die Jahre 1926/27 fällt dann die Abräumung von Teilen des alten Friedhofs an der Schillerstraße, heute Standort des Kreisverkehrs. Bei der Abtragung des Hügels sorgt ein Gemeindemitglied dafür, dass die gefundenen Gebeine sorgfältig gesammelt und in von Frauen genährten Säckchen gebracht werden. Diese werden im neu belegten Teil des Friedhofs (an der B8) beigesetzt.

Beispiele der Finanzierung der Gemeindearbeit Kultussteuer, Gebühren

Die jüdische Gemeinde finanzierte ihre Aufgaben über mehrere finanzielle Quellen, die immer wieder im Protokoll erwähnt werden. Da ist zunächst die Gemeindesteuer, die auch „Kultussteuer“ genannt wird. Darüber hinaus werden für die „Dienstleistungen“ in der Gemeinde Gebühren erhoben.

Solche Gebühren gelten z.B. für die Sitze in der Synagoge. Gestaffelt je nach Ort des Sitzes und Alter des Mannes wurden Gebühren von 15 Mark über 12.- , 10.- , 8.- , 5.- und 3 Mark festgelegt, pro Jahr (1894). Für den Frauenbereich betrugen die Gebühren pro Sitz 8.-, 5.- und 3.- Mark. Wobei erwähnt werden muss, dass Frauen und Männer in der Synagoge getrennt saßen.

Gebühren wurden auch für die Nutzung der Mikwe, des rituellen Bades, erhoben. Man kann sagen, dass die Mikwe das rituelle Zentrum der jüdischen Gemeinde darstellte. Trotz mehrfacher Erwähnung im Protokoll wird aber nicht klar, wo denn der Standort des Bades war.

Neben dem Grundstück der Synagoge kommt auch noch das angrenzende Grundstück der jüdischen Schule in Frage. Die Zerstörungen im Krieg und die Überbauungen danach haben alle Spuren der Mikwe wohl ausgelöscht.

Gebühren wurden auch für das „koschere“ Schlachten erhoben. Verantwortlich dafür war der „Schochet“, eine Funktion, die wohl immer mit dem Kantor verbunden war, der das aber mit geeigneten Metzgern regelte.

Projekte 2016 - Übergabe des restaurierten 138 Jahre alten Protokollbuches an das Stadtarchiv am 26 November 2016 - Bild 3 von 3

Übergabe des restaurierten Protokollbuches – Bild 3 von 3

Im August 1896 wurden für das koschere Schlachten einer Kuh 2 Mark, eines Kalbes 0,70 Mark und eines Huhns 0.10 Mark an Gebühren erhoben. Für das Jahr 1896/97 wird beschlossen für schulpflichtige Kinder des Waisenhauses 25 Mark einzuziehen. Leider findet sich kein Eintrag, von wem diese Summe eingezogen werden sollte.

Spenden

Finanzielle Zuwendungen erhielt die Gemeinde auch durch Spenden, die aber in der Regel Zweck gebunden waren. Typisch dafür sind die „Kaddish-Gebete“, die für Verstorbene gespendet wurden. In den Spendenzuwendungen wurde wohl auch die Dauer dieser Gebete in der Synagoge, z.B. eine Stunde, festgelegt. Doch im Protokoll wird auch eine Spende von 1000 Mark zur freien Verfügung für die Gemeinde erwähnt. Das war damals eine gewaltige Summe!

Erblegate

Jüdische Gemeindemitglieder bestimmten in ihren Testamenten oft auch „Legate“ für die Gemeinde. Solche Legate konnten 300 Mark umfassen, aber auch 3000 Mark! Beides waren für die damaligen Verhältnisse bedeutende Summen. Denn für säumige Erben, die der Gemeinde die 300 Mark nicht auszahlten, erwog der Gemeindevorstand sogar einen Rechtsstreit. Dazu kam es dann aber nicht. Doch für ein Legat von 3000 Mark konnte man damals „Häuser bauen“!

Das Protokollbuch als Archivalie

Das Protokollbuch hat bisher 138 Jahre überstanden. Doch nun zeigten sich seit einiger Zeit Ansätze der Zerstörung: Papierfraß! Der Freundeskreis wurde von Jürgen Grafen und der Stadtarchivarin Gisela Marzin auf den Verfallsprozess dieser wichtigen historischen Quelle aufmerksam gemacht.

Darum wurde eine schnelle Restaurierung des Protokollbuchs beschlossen, ohne dabei lange Amtswege in Anspruch zu nehmen. Erleichtert wurde dieses Vorhaben durch großzügige Spenden von Renate Seidel und Dr. Wulfhard Ziegler.

Das Protokollbuch als Archivalie

 Die ersten vier Fotos zeigen den Zustand des Protokollbuches vor der Restaurierung. Der Einband, 1. Bild, hatte sich teilweise gelöst. Beim 2. Bild sieht man das Ausfleddern der Seitenkanten. Auch verblassen einige Schriftzeilen. Das 3. Bild macht das Zerstörungswerk des Papierfraßes besonders deutlich. Den Papierfraß erkennt man auch auf dem 4. Bild. Hier aber können wir die Namen der Unterzeichner gut erkennen: Simon Jacobs als Vorsitzender der Gemeinde, der vorher bereits als Vertreter der Dinslakener Gemeinde im Synagogenverband genannt wurde. Dazu taucht der Name Lifmann auf und wohl auch Josef Jacob.

Projekte 2016 - Restaurierung eines Protokollbuchs der jüdischen Gemeinde für das Stadtarchiv - Teilweise gelöster Einband

Zustand vor der Restaurierung – Bild 1

Projekte 2016 - Restaurierung eines Protokollbuchs der jüdischen Gemeinde für das Stadtarchiv - Ausfleddern der Seitenkanten

Zustand vor der Restaurierung – Bild 2

Projekte 2016 - Restaurierung eines Protokollbuchs der jüdischen Gemeinde für das Stadtarchiv - Sehr deutlicher Papierfraß

Zustand vor der Restaurierung – Bild 3

Projekte 2016 - Restaurierung eines Protokollbuchs der jüdischen Gemeinde für das Stadtarchiv - Papierfraß und Unterschrift Simon Jacob

Zustand vor der Restaurierung – Bild 4

In den folgenden vier Bildern zeigen wir einige restaurierte Seiten. Der Einband seitlich und hinten ist wieder repariert, die Seiten akkurat und die Schrift gut lesbar. Ich habe in einem Bild die Seite des Protokolls der Gemeindevorstandssitzung vom 22.2.1898 aufgeschlagen. Als Unterzeichner kann ich mit der Hilfe von Jürgen Grafen Emil Jacob, David Isaacson, Simon Wolf, Isaac Isaacson, Ferdin Jacob und ganz unten wieder Simon Jacobs, den Vorsitzenden, erkennen.

Projekte 2016 - Restaurierung eines Protokollbuchs der jüdischen Gemeinde für das Stadtarchiv - Restaurierter Einband

Restaurierter Einband

Projekte 2016 - Restaurierung eines Protokollbuchs der jüdischen Gemeinde für das Stadtarchiv - Sehr gut lesbare Schrift auf einer restaurierten Seite

Sehr gut lesbare Schrift auf einer restaurierten Seite

Projekte 2016 - Restaurierung eines Protokollbuchs der jüdischen Gemeinde für das Stadtarchiv - Schrift gut lesbar im Protokoll der Gemeindevorstandssitzung vom 22 Februar 1898

Schrift gut lesbar im Protokoll der Gemeindevorstandssitzung vom 22 Februar 1898

Projekte 2016 - Restaurierung eines Protokollbuchs der jüdischen Gemeinde für das Stadtarchiv - Restaurationsvermerk

Restaurationsvermerk

Presseartikel

Presseartikel - Übergabe des restaurierten 138 Jahre alten Protokollbuches an die Stadtbibliothek - NRZ - 28 November 2016